Literaturlandschaft Ruhrgebiet

Von der Städtestadt zur Metropole Ruhr, von der Industriekultur zur Kulturindustrie. Das Ruhrgebiet ist spannend. Erleben Sie mit mir den Wandel und die literarische Vielfalt in ausgesuchten Hör- und Videobeiträgen. Hier finden Sie zudem Kommentare und Kurzbiografien der beteiligten Personen, Informationen zum REVIERCAST-Projekt, Verweise auf verwandte Projekte sowie aktuelle Nachrichten aus der Literaturszene im Revier.

Viel Vergnügen beim Stöbern ...

Karl-Heinz Gajewsky

"Inzwischen habe ich mir Ihre Website angesehen, das ist ja ein Opus magnum, an dem Sie da arbeiten, die literarische Kartographierung des Ruhrgebiets, großartig, und mich haben Sie damit in beste Gesellschaft aufgenommen."

Andreas Rossmann, FAZ

Ausschreibung: Poetische Experimente - Von Lyrik und Prosa zu Visueller Poesie, Songs, Hörclips oder Performance

Ausschreibung: Poetische Experimente -
Von Lyrik und Prosa zu Visueller Poesie, Songs, Hörclips oder
Performance

Das Literaturbüro Ruhr e.V., die Autorinnenvereinigung e.V. und das
Frauenkulturbüro NRW laden interessierte Autorinnen herzlich zur
Teilnahme an der Veranstaltung „Poetische Experimente und
Erfahrungsaustausch“ am 16. Oktober 2010 von 11 bis 20 Uhr in die
Kulturfabrik Heeder, Krefeld ein. Die erfahrenen Autorinnen und
Referentinnen Judith Kuckart, Angelika Janz, Manja Präkels, Tanja
Dückers und J. Monika Walther arbeiten mit den Teilnehmerinnen von 11
bis 17 Uhr in Werkstätten. Ab 18 Uhr findet eine öffentliche
Veranstaltung „Sprachlaboratorium“ auf der Probebühne statt, bei der
Referentinnen und Teilnehmerinnen ihrer Fantasie mit Improvisationen
freien Lauf lassen können. Ein Kostenbeitrag/Eintritt wird nicht
erhoben.

Die Veranstaltung richtet sich an Autorinnen, die neue Programme für
öffentliche Auftritte entwickeln, Marketingstrategien umsetzen und
Genregrenzen überschreiten möchten.
Interessentinnen sind herzlich eingeladen, sich mit biografischen
Angaben und einer Projektskizze mit Textprobe (insgesamt 2 Normseiten)
bis zum 30. September zu bewerben. Eine Jury wählt die 30
Teilnehmerinnen aus.

Bewerbung unter:
Literaturbüro Ruhr
Elisabeth.roters-ullrich@stadt-gladbeck.de
www.literaturbuero-ruhr.de
LiteraturBüro Ruhr e. V.
Friedrich-Ebert-Str. 8
45956 Gladbeck
02043 / 99 - 2646

4. Internationales Aphoristikertreffen in Hattingen

Im Kulturhauptstadtjahr RUHR 2010 wird im Stadtmuseum Hattingen das 4. Aphoristikertreffen durchgeführt. Die Referenten und Teilnehmer/innen werden in der Zeit vom 4.-6. November unter dem Oberthema "Gedanken-Übertragung" folgenden Fragen nachgehen: Wie kommt der Aphorismus von einer Sprache in die andere? Was verliert er beim Übertragungsvorgang nach innen? Was gewinnt er nach außen? Wie ist überhaupt das europäische Netz der "kleinen Gattung" geknüpft? Und das seit den Tagen der internationalen Ausstrahlung La Rochefoucaulds im 18. Jahrhundert bis zur Wirkung Canettis in Spanien oder des polnischen Autors Lec in Deutschland bis in die Gegenwart. Aber auch: Wie und warum kommt der Gedanke zu (s)einem Bild? Übertragung hier wie dort. Á propos: Beim Aphorismus werden paradoxerweise keine Krankheitserreger, sondern Gesundheitserreger übertragen. Lassen Sie sich also im positiven Sinne infizieren!
Veranstalter sind der Förderverein des Deutschen Aphorismus-Archivs (DAphA) Hattingen e.V: und das Stadtmuseum Hattingen.
Im Einzelnen siehe www.dapha.de und www.aphoristikertreffen.de

Märchen als Brücke für Menschen und Kulturen - Interkultureller Kongress der Europäischen Märchengesellschaft e.V.

Im Ballungsraum Ruhrgebiet leben heute wie an keinem anderen Ort in Europa Menschen der verschiedensten Nationen zusammen. Mit dem Anspruch, Kulturhauptstadt Europas zu werden, ist der Region vor allem die Aufgabe zugefallen, dieses interkulturelle Potential in ein fruchtbares Miteinander zu überführen. Die Märchen bieten sich als eine elementare Basis zur Völkerverständigung deshalb an, weil sie unterhalb aller Kulturen und Ideologien eine gemeinsame Bildersprache haben, auf die sich alle Menschen verstehen. Unserem Anliegen hat das Kulturhauptstadtbüro der Metropole Ruhr eine solche Bedeutung zugemessen, dass es, um den Kern des Kongresses, ein Märchen-Erzähl-Festival organisiert, das vom 1. September bis 15. Oktober Gelsenkirchen zur Erzählstadt der Region machen wird.

„Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“, so formulierte der Dichter und Orientalist Friedrich Rückert schon vor 200 Jahren, nachdem er die Dichtungen des Orients und Ostasiens als Erster ins Deutsche übertragen hatte. Wir leben heute im Zeitalter der Globalisierung; die Medien ermöglichen uns weltweite Kontakte, und dass alle Menschen der Erde in den Märchen gleiche Wurzeln haben, lässt sich darum global vermitteln: die Märchen bieten uns die ungeahnte Chance, Brücken zu bauen, über Hindernisse und Fremdheiten hinweg, ohne dabei die regionalen Unterschiede und ihre Vielfalt zu unterschlagen: ein Kosmos öffnet sich, dessen Reichtum Freude und Staunen hervorruft. Wir laden herzlich dazu ein, dieses Abenteuer mitzuerleben und die Fülle der interkulturellen Angebote zu genießen. Willkommen in der Metropole Ruhr – willkommen in Gelsenkirchen!
Im Namen der Europäischen Märchengesellschaft

Ursula und Heinz-Albert Heindrichs

Der Kongrgess findet vom 29. September 2010 bis 3. Oktober 2010 in Gelsenkirchen statt. Nähere Informationen unter http://maerchengesellschaft.de

Von Flussidyllen und Fördertürmen - Wissenschaftliche Tagung

"Der Rhein" erscheint als eine idyllische Flusslandschaft mit gepflegten Städten, als ein positiv besetzter Mythos und literarischer Topos - im Gegensatz zur "Ruhr", die der Region ihren Namen gab und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die rasante Entwicklung von einer agrarisch geprägten Landschaft zu einer industriellen Kernzone begleitet. Für die einen war das Ruhrgebiet ein schwarzes Stück Deutschland, eine Region harter und schmutziger Arbeiten, bescheidener Lebensverhältnisse, geschichts- und kulturloser Städte, zerstörter Natur, unkontrollierter wirtschaftlicher Macht. Andere sahen im Ruhrgebiet ein Vorbild für die moderne Arbeits- und Lebenswelt, für die Faszination der Technik, für eine internationale und solidarische Gesellschaft, für die Metropolen der Zukunft. Beide Sichtweisen finden sich in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wieder - in Romanen, Erzählungen und Gedichten ebenso wie in Reportagen, Essays, Rundfunk- und Zeitungsbeiträgen.

Vor diesem Hintergrund befasst sich die Tagung mit den Fragestellungen zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten literarischer Darstellungen des Ruhrgebiets vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Beleuchtet werden Mythen, Topoi und Bilder des Wandels sowie die Bedeutung der Arbeitsmigration für die Eigen- und Fremdwahrnehmung im Hinblick auf die "Nahtstelle Ruhr und Rhein".

Wissenschaftliche Tagung der Stadtbibliothek Duisburg, des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund, der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, Bochum, und des Instituts "Moderne im Rheinland", Düsseldorf

Tagungsleitung: Dr. Jan-Pieter Barbian, Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann, Hanneliese Palm, Prof. Dr. Klaus Tenfelde

Freitag, 4. Juni 2010, 10.00 bis 17.00 Uhr,
Samstag, 5. Juni 2010, 10.00 bis 17.00 Uhr,

Veranstaltungsort:
Schifferbörse
Gustav-Sander-Platz 1
47119 Duisburg

Teilnahmegebühr: 10,- EUR pro Veranstaltungstag

Powerwords - wortgewaltig! Schriftsteller erforschen das Ruhrgebiet

Das Ruhrgebiet als Industrieregion im Spannungsfeld von Industrie, Strukturwandel und Migration bietet die Basis für spannende literarische Prozesse.
Wie lebt man in einer sich stark verändernden Industrie- region, wie wird man der Probleme Herr, die in einer von starker Migration geprägten Bevölkerung auftreten? Nutzt man die Chancen kultureller Vielfalt, traditioneller und moderner Lebensformen und des Nebeneinanders von Jung und Alt?
Wie empfinden die Autorinnen und Autoren aus den Partnerstädten diese Spannungsfelder und wie können sie literarisch verarbeitet werden?
Autorinnen und Autroren aus Dortmund und Berg- kamen und aus ihren Partnerstädten Amiens, Leeds, Rostov und Wieliczka nutzen dieses Spannungsfeld, um sich auszutauschen und zu ergänzen bei ihrem Blick auf die Region zwischen Nähe und Gewohnheit, Innen- und Außensicht.
Horst Hensel, Heinrich Peuckmann, Petra Reski und Werner Streletz bereisen vom 17.–23.04.2010 mit Jean- Paul Dekiss, Denis Gutsko, Sitara Khan und Agnieczka Topornicka das Ruhrgebiet. Sie sprechen über ihre Erwartungen und Vorstellungen von der Region, sammeln und vergleichen ihre Reiseeindrücke, schreiben sie nieder und lesen sie vor.

Lesung
Donnerstag 22.4.2010 • 19.00 Uhr
Stadtbibliothek Bergkamen, Am Stadtmarkt 1
Lesung zum Welttag des Buches
Freitag, 23.4. 2010 • 19.00 Uhr
Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Königswall 18

Eintritt frei für beide Lesungen.

Informationen: Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt
Grubenweg 5 , 44833 Dortmund, Tel.: (0231) 50-2 31 35 E-Mail: fhi@stadtdo.de

Kulturreferat Rathausplatz
59192 Bergkamen, Tel.: (02307) 965-263 E-Mail: kulturreferat@bergkamen.de

Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr - Kinder und Jugendliche erzählen ...

Ein ungewöhnliches Buchprojekt für Kinder und Jugendliche startet in diesen Tagen im Kulturhauptstadtjahr. Im Rahmen eines Schreibwettbewerbs sind alle Kinder und Jugendlichen im Alter von 10 bis 20 Jahren, die im Ruhrgebiet leben, aufgefordert, Texte zum Thema "Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr" zu schreiben und einzureichen. Wie sie mit dem Thema umgehen, steht ihnen frei. Sie können neue Märchen erfinden, bekannte Märchen verändern, aber auch Märchenfiguren in ihrem Alltag erscheinen lassen und dafür sorgen, dass sich dort Märchenfiguren aus unterschiedlichen Kulturen begegnen. Natürlich können die jungen Autorinnen und Autoren auch darüber berichten, an welches Märchen sie sich besonders gut erinnern, welche Märchen ihnen heute noch begegnen und welche Märchen ihnen Eltern und Großeltern erzählt oder aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Oder sie können darüber schreiben, was ihnen heute im Alltag an märchenhaften oder gerade nichtmärchenhaften Erfahrungen und Erlebnissen begegnet. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Akzeptiert werden alle Textformen von "richtigen" Märchen über märchenähnliche Texte bis hin zu Anti-Märchen. Entscheidend ist, dass ein Märchenbezug erkennbar ist.

Initiiert wurde dieses Buchprojekt vom Kulturzentrum Grend in Essen und vom Geest-Verlag in Vechta. Es baut auf den Anthologien "Fremd und doch daheim?!!?", "Dann kam ein neuer Morgen", "Heute ist Zeit für deine Träume", "Pfade ins Revier - Pfade im Revier" sowie "Ruhrkulturen: was ich dir aus meiner Welt erzählen möchte". auf. Sie alle boten bereits überraschende Einblicke in die Lebenswelten von Kindern- und Jugendlichen im Revier und sind international bekannt geworden.Bis zum 15. Juli 2010 bleibt nun Zeit, Texte für das neue Buch einzureichen. Die Adresse: Kulturzentrum Grend, Westfallenstraße 311, 45276 Essen, Kennwort: märchenhaftes). Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte können ihre Texte auch gerne in in ihrer Muttersprache verfassen, wenn sie sich in ihr eher zu Hause fühlen.

Aus den eingesandten Texten werden die Herausgeber Andreas Klink und Artur Nickel eine Auswahl zusammenstellen, die im Oktober 2010 im Geest-Verlag als Buch erscheinen wird. Die beiden freuen sich jetzt bereits auf viele interessante Texte. Jeder der im Buch veröffentlichten Jungautorinnen und -autoren erhält natürlich ein kostenloses Belegexemplar. Die Premiere wird mit einem Premierenfest gefeiert werden.

Weitere Informationen gibt es unter www.märchenhaftes2010.de, www.arturnickel.de oder www.geest-verlag.de. Dort werden auch Rückfragen beantwortet.

Klaus-Peter Wolf: Begegnungen mit Max von der Grün

Bevor ich Max von der Grün persönlich kennen lernte, hatte ich bereits zwei seiner Bücher verschlungen: „Irrlicht und Feuer“ und „Fahrtunterbrechung“. Ich wollte Romanschriftsteller werden und war auf der Suche nach Vorbildern. Max von der Grün war ein Held für mich, ebenso wie Hans Fallada, Heinrich Böll, und, ja, ich gebe es zu, ich mochte auch Johannes Mario Simmel. Aber die Bücher von Max berührten mich anders. Ich kannte die Menschen, von denen er sprach, genau so waren sie, die Leute, zwischen denen ich im Ruhrgebiet aufwuchs. Dann kam es – ich glaube, in Witten – zu einem ersten Treffen. Bezeichnenderweise fand es auf einem Marktplatz statt, zwischen den Ständen. Links neben uns verkaufte einer Bratwürstchen, rechts neben uns Obst. In der Mitte dazwischen ein Tisch, auf dem Literatur angeboten wurde. Wir Autoren sollten dort lesen. Richard Limpert und Josef Büscher, die Bergarbeiterdichter aus Gelsenkirchen, hatten mich mitgebracht. Ich war siebzehn Jahre alt, gerade wieder mal dabei, auf dem Gymnasium sitzen zu bleiben und hatte erste Geschichten und Gedichte in Zeitungen veröffentlicht. Hier sollte ich jetzt lesen. Ich sah die Situation und schämte mich in Grund und Boden. Wer, bitteschön, sollte denn hier zuhören? Die Leute hasteten mit ihren Einkaufstüten vorbei, stritten sich lauthals über die Fußballergebnisse und Tauben pickten auf dem Boden die Krümel auf, die um den Abfalleimer verstreut lagen.
Ich war sofort der Meinung, diese ganze Aktion könnte nicht gelingen, alles sei blödsinnig und müsse abgeblasen werden. Wir würden uns doch nur lächerlich machen. Nein, hier will uns kein Mensch zuhören.
Noch bevor ich ihn sah, roch ich den Tabaksqualm seiner Pfeife. Dann stand Max von der Grün neben mir.
„Na, hasse Schiss?“, fragte er mich und ich bekam nicht mal einen vernünftigen Satz heraus, sondern brummte etwas wie: „Hmm.“
Kurze Zeit begann der von mir bewunderte Autor tatsächlich mit der Lesung. Er benutzte dabei ein Megaphon (kein Mikrophon, ich rede wirklich von einem Megaphon. So einer Flüstertüte mit einem ganz schrecklichen Klang) und Max las nicht irgendwelche kämpferischen Gedichte vor, die man den Leuten vielleicht im Vorbeigehen zuschreien konnte, oh nein. Er trug eine Erzählung vor. Ja, geschlagene zwanzig Minuten lang las er ohne großes Aufhebens von sich zu machen, fast ohne Gesten, ganz ruhig eine Erzählung. Und das Unmögliche geschah: Menschen blieben stehen, hörten zu, stellten ihre Einkaufstüten neben sich auf den Boden und schon nach kurzer Zeit war Max gar nicht mehr zu sehen, so groß war die Menschentraube, die ihn umgab.
Ein kleiner Junge fiel mir auf, der seine Mutter weiterzerren wollte, doch sie sah ihn streng an und zischte ihm ein „Pssscht!“ zu. Ich beobachtete den Jungen. Max las eine Erwachsenenerzählung. Ein bisschen traurig war sie und so gar nichts für Kinder, dachte ich. Doch nach kurzer Zeit hatte er auch die Aufmerksamkeit des Jungen.
„Siehste, geht doch“, sagte Richard Limpert zu mir und stupste mich dann an, dass ich nun beginnen sollte. Und irgendwie schaffte ich es dann, zwischen Ohnmacht und Tagtraum eine Kurzgeschichte vorzulesen. Ein paar Leute gingen. Jeder Einzelne tat mir weh. Aber eins wog alles auf: Max blieb da, sog an seiner Pfeife und hörte mir zu.
Als wir fertig waren, sagte Josef Büscher: „Na, willzn Pils?“
Gemeinsam gingen wir vier in eine Kneipe und tranken im Stehen am Tresen.
Irgendwie war das meine Feuertaufe als Autor und wir lachten, hatten Spaß miteinander, erzählten uns immer wieder von den Gesichtern einzelner Menschen.
Ich hatte mir in meiner überheblichen Gymnasiastenart den Arbeiterdichter – so wurde Max oft genannt – ganz anders vorgestellt. Irgendwie ungebildeter. Aber er hatte während der Kriegsgefangenschaft Hemingway, Faulkner, Upton Sinclair, John Steinbeck, Jack London, B. Traven, Shakespeare und James Joyce gelesen und zwar in der Originalsprache. Autoren, die ich gerade in Deutsch für mich entdeckte.
Er konnte Goethes Faust, mit einem Bier in der Hand, auswendig zitieren und zwar endlose Passagen lang.
Jeder gab mal eine Runde und als es am Ende ans Bezahlen ging, kramte ich wohl ziemlich lange in meinen Taschen, denn Max übernahm meinen Deckel. Er musste zurück nach Dortmund und ich mit Josef Büscher und Richard Limpert nach Gelsenkirchen. Wir waren mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen. Richard regte sich über die „unverschämten Fahrpreiserhöhungen“ auf.
Als wir uns verabschiedeten, drückte Max von der Grün mir ein Fünfmarkstück in die Hand, einen sogenannten Heiermann. Max sagte kein Wort dazu. Ich spürte nur die Münze in meiner Hand brennen und als ich ihn darauf ansprechen wollte, guckte er mich so an, dass es mir unmöglich war, etwas dazu zu sagen.
Ich vermute, er hatte Angst, ich könnte mir die Rückfahrkarte nicht leisten, denn ich hatte erwähnt, dass die Veranstalter uns ja ein Honorar versprochen, das aber nicht ausgezahlt hatten. Sie wollten jedem von uns fünfzig D-Mark überweisen und ich ließ den Satz fallen: „Bargeld wäre mir lieber gewesen.“
Diese fünf Mark waren damals sehr wichtig für mich. Es war so etwas wie ein Zeichen, dass ein großer Autor an mich glaubte. Und ich schwor mir, sollte ich es jemals schaffen und mich „freischreiben“, wie Josef Büscher und Richard Limpert es nannten, würde ich Max die fünf Mark zurückgeben.
Jahre später, ich war inzwischen fünfundzwanzig, gab es eine weitere Begegnung mit Max von der Grün, die ich nie vergessen werde. Ich war von dreizehn Autoren zum Geschäftsführer des ersten wirklich autoreneigenen Verlages der Bundesrepublik gewählt worden. Wir wollten mit dem Literarischen Verlag gegen die Bertelsmänner antreten und all den großen Buchfabriken zeigen, wie man richtig spannende Literatur macht. Leider überschätzten wir uns und unsere Fähigkeiten und ich musste dreizehn Monate später Konkurs anmelden. Ich hatte viel Geld verspielt, das mir nicht gehörte und dazu blieben 2,7 Millionen D-Mark Schulden an mir persönlich kleben. Eine, wenn man fünfundzwanzig Jahre alt ist, vollkommen unvorstellbare Summe. Viele Leute verloren Geld, unter ihnen auch einige Autoren, die für den Verlag gebürgt oder mir Geld geliehen hatten.
Meine Frau war gerade schwanger, ich hatte die Wohnung verloren, weil wir, um aus Arbeit und Leben eine Einheit zu machen, alle gemeinsam im Verlagsgebäude wohnten, unsere Autos waren gepfändet und ein übereifriger Gerichtsvollzieher hatte sogar meine Schreibmaschine mitgenommen.
Einige Leute taten aber so, als sei ich ein abgezockter Hund, der mit jeder Menge Kohle durchgebrannt wäre, was nicht den Tatsachen entsprach. Man strengte sogar mehrere Gerichtsverfahren gegen mich an, das vermutlich originellste wegen Diebstahls eines Autorenporträts schwarzweiß. Ich war ganz unten angekommen. Das letzte, was ich nun verlor, war mein guter Ruf.
In Leverkusen tagte der Schriftstellerverband und ich beschloss, hinzufahren. Es fiel mir unglaublich schwer. Ich hatte Angst davor, den Kollegen zu begegnen und doch wusste ich, dass ich mich dieser Situation stellen musste. Gerade jetzt, in der heißen Phase des Konkurses, in der so viele Gerüchte blühten.
Ich kam ein bisschen zu spät und mit zittrigen Beinen ging ich ins Kongressgebäude. Ein Kollege, Rainer Horbelt, stand rauchend draußen vor der Tür und rief mir fröhlich zu: „Na, dass du dich hierhin traust! Du hast ja Nerven!“
Ich wäre am liebsten wieder umgekehrt und weiß nicht, woher ich den Mut nahm, doch reinzugehen, vorbei an ein paar Kollegen, einer klopfte mir auf die Schultern und sagte höhnisch: „Na, Klaus-Peter, Freigang in der JVA?“
Innen war ein Podium aufgebaut, auf dem Max zusammen mit anderen Autoren saß und eine politische Stellungnahme abgab, die aber völlig an mir vorbeirauschte, weil ich noch wie benommen von der Begrüßung draußen ziemlich weit hinten stand und mich nicht traute, nun durch die Reihen zu einem freien Platz nach vorne zu gehen.
Da stand Max auf, verließ das Podium, lief mit offenen Armen auf mich zu, drückte mich an sich und rief: „Der Klaus-Peter! Schön, dass du da bist, Junge! Ich hoffe, du überstehst das alles. Dir bläst der Wind ja gerade gewaltig ins Gesicht.“
Er sagte noch viel mehr, aber das hörte ich nicht mehr. Seine Begrüßung, so laut, öffentlich, vor allen, die demonstrative Umarmung – das war wie ein Ritterschlag. Was sollte mir jetzt noch passieren? Wer wollte mich jetzt noch angreifen?
Dann gesellten sich andere Kollegen zu uns. Josef Reding kam, Herbert Somplatzki und Volker W. Degener. Ich traute mich gar nicht weg aus der Nähe von Max. Es war, als würde ich in seiner Aura von einer Art Schutzhülle umgeben.
Ich war als Schwarzfahrer gekommen und hatte weder Geld, mich dort zu verpflegen noch für die Rückfahrt. Ich behauptete also in der Mittagspause, keinen Hunger zu haben, weil ich schon gegessen hätte. Max sah mich an, verzog den Mund und zischte: „Erzähl doch nicht so´n Scheiß!“ Dann bestellte er eine Mahlzeit für mich. Er tat das leise, unspektakulär, ohne irgendein Aufsehen zu erregen. Ich verstand, er wollte mir die Ehre lassen.
Ich hätte ihm gerne die fünf Mark zurückgegeben, die ich ihm noch aus Witten schuldete. Doch von meiner Zeit als Schüler am Grillo-Gymnasium bis zu diesem Autorenkongress war es nicht gerade bergauf mit mir gegangen. Trotzdem verließ ich den Kongress irgendwie gestärkt. Als Sieger. Ein zweites Mal hatte seine Anerkennung mich gerettet.
Im Februar 1987 kam es dann zu unserem dritten, denkwürdigen, für mich unvergesslichen Treffen. Ich hatte mich mit Romanen als Autor etabliert und das Glück, fürs Fernsehen schreiben zu dürfen. Der Filmproduzent Günter Herbertz ließ mich ganze Serien entwickeln und ich war in der Lage, meine Schulden abzubezahlen. Es war nicht immer einfach, aber es ging mir gut und ich konnte mit meiner Kunst meine kleine Familie ernähren. Ich hatte mich „freigeschrieben“.
Max von der Grün war auf dem Höhepunkt seines Ruhms. „Vorstadtkrokodile“ war zur Schullektüre geworden und Max ein international renommierter Autor, dessen Romane verfilmt wurden. „Irrlicht und Feuer“ in der DDR, die anderen dann auch in Westdeutschland.
Ich stand zuhause und bügelte (ja, ich weiß, das hört sich lächerlich an) einen pinkfarbenen Rüschenrock meiner Tochter, als die Postbotin klingelte und mir ein merkwürdiges Telegramm brachte. Es kam aus Moskau und hatte 371 Worte. Angeblich war es von Dschingis Aitmatow und Michail Gorbatschow. Ich wurde darin zu einem Forum nach Moskau eingeladen, in dem es um die Erhaltung der Zivilisation und des Friedens auf Erden gehen sollte. Es las sich dramatisch. Die Welt stand an einem Abgrund (wer wollte das bezweifeln?), mitten durch Deutschland verlief eine schreckliche Grenze, die Weltmächte bedrohten sich gegenseitig mit Atomraketen, und es konnte jederzeit losgehen. Ein zufällig anwesender Freund sagte: „Wenn sie dich jetzt brauchen, um die Welt zu retten, Klaus-Peter, dann sieht es wirklich finster aus. Ich an deiner Stelle würde fahren.“
Aber ich war mir gar nicht so sicher, ob dieses Telegramm echt war. Kam es wirklich von Michail Gorbatschow und Dschingis Aitmatow oder machten sich nur ein paar besoffene Freunde von mir mit ihrem letzten Geld in Moskau kurz vor dem Heimflug einen Witz?
Ich rief Max an. Wie immer am Telefon meldete er sich erst mal bärbeißig und abweisend. Als er dann hörte, wer dran war, wurde er freundlich. Ich erzählte ihm von dem Telegramm und fragte ihn, was er davon hielt. Er selbst hatte auch vor wenigen Minuten so ein Telegramm erhalten und wusste es selbst noch nicht genau einzuordnen. Wollte uns da jemand im großen Stil reinlegen?
Wir beschlossen, jeder einen anderen Kollegen anzurufen, um zu sehen, ob „die auch so etwas bekommen haben“. Wir machten eine kurze Liste der Kollegen, „die man bestimmt auch angeschrieben hat, wenn das echt ist.“
Ich rief Bernt Engelmann und Günter Wallraff an. Beide hatten auch so ein Telegramm erhalten. Die sowjetische Botschaft wusste von nichts, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik hatte völlig andere Sorgen, aber Max erreichte Josef Reding und auch der Kollege hatte eine Einladung bekommen.
Wir entschieden uns also dafür, dass es sich nicht um einen dummen Witz handelte und trafen uns wenige Tage später am Flughafen Köln-Bonn. Nur Bernt Engelmann war nicht da. Er zog es wegen seiner Flugangst vor, mit dem Zug nach Moskau zu fahren.
Aber es kamen auch noch andere, die wir nicht angerufen hatten, z.B. Lothar Günther Buchheim (Autor von „Das Boot“), die Schauspieler Maria und Maximilian Schell und Hanna Schygulla. Ein paar Wissenschaftler, die ich nicht erkannte, waren auch da. Die Wissenschaftler flogen zweiter Klasse, die Künstler erster Klasse. Das ließ sich ganz gut an, fanden Max und ich. Im Flugzeug dann wurde uns Schampus und Kaviar geboten. „Wenn wir so die Welt retten können, sind wir doch dabei“, grinste Max und zwinkerte mir zu.
Wir saßen nebeneinander und wir waren beide schrecklich nervös. Wir begannen zu kapieren, dass man Künstler eingeladen hatten, die in der Sowjetunion sehr bekannt waren. Alle Autoren hier im Flugzeug waren ins Russische übersetzt worden und hatten dort große Auflagen. Hanna Schygulla war durch die Fassbinder-Filme in der Sowjetunion eine unglaublich bekannte Schauspielerin, Maria und Maximilian Schell kannte auch jeder.
Gemeinsam gingen wir ins Cosmos-Hotel. Petra Kelly (damals Bundestagsabgeordnete der Grünen) war auch da und Andrej Sacharow, den ich nur mit der Zusatzbezeichnung „Regimekritiker“ kannte. Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch kamen zeitgleich mit uns an. Peter Ustinov wollte einen ausgeben, das ging aber nicht, weil wir die Drinks an der Hotelbar nicht bezahlen konnten, schließlich waren wir geladene Gäste.
Mir wurde ganz komisch, als neben mir auf der Toilette plötzlich Graham Greene stand und als Max und ich im Fahrstuhl hochfuhren, stieg mit uns Yoko Ono ein. Sie trug ein Kleid, das ein bisschen aussah, als hätte sie es auf dem Flohmarkt gekauft. Wir sahen uns an, grinsten, sagten aber beide nichts. Sie beschwerte sich darüber, dass ihr der Kaffee nicht schmeckte und als wir zu unseren Zimmern gingen, tänzelte Max plötzlich vor mir her und machte Yoko Ono nach. „Just wanna have a coffee.“
Ich erlebte die Tage wie im Rausch. Ich war nicht müde, ich kannte keine Uhrzeit und Max ging es genauso. Wir blieben immer auf Sichtkontakt, als müssten wir uns gegenseitig vergewissern, dass das hier gerade wirklich stattfand.
Gorbatschow redete davon, dass es so nicht weitergehen könne und beschrieb uns eine Zukunftsvision, wie wir sie kühner kaum hätten träumen können. Die gigantischen finanziellen Mittel, die das Wettrüsten jetzt noch verschlang, sollten freigesetzt werden, um Hunger und Elend in der Welt zu bekämpfen, wodurch auch die Kriegsgefahren eingedämmt werden sollten. Es wurde ein offenes Wort gesprochen, freie Reden gehalten, niemand musste vorher ein Manuskript abliefern.
Ich hatte im Westerwald an einer Luftballonaktion gegen Tiefflieger teilgenommen und war angezeigt worden, wegen Behinderung des Luftverkehrs über der Bundesrepublik Deutschland.
Max fand, ich solle das thematisieren, das gehöre genau hierhin. Ich war unentschlossen, mich zu melden, bei all den Geistesgrößen glaubte ich, dass es mir gar nicht wirklich zustand, etwas zu sagen. Aber Max ließ mich auf die Rednerliste setzen und Engelmann führte seinen Vorschlag aus.
Als ich dann von der Luftballonaktion sprach, erntete ich spontanen Beifall von Peter Ustinov, der sofort begann, ein Bild zu malen, das ihn als riesigen Luftballon zeigte und er verkündete: „Keine Sorge, Klaus-Peter, wir lassen dich nicht hängen. Wenn der Prozess stattfindet, kommen wir alle.“ (Unnötig zu erwähnen, dass das Verfahren gegen mich auf dem Gnadenwege eingestellt wurde.)
Gemeinsam mit Max besuchte ich das Bolschoi-Theater. Neben uns saß ein miesepetriger Max Frisch, der glaubte, das alles käme sowieso zu spät. Er war pessimistisch für die Welt und hatte Mühe, dem Tanz etwas Positives abzugewinnen. An einen guten Ausgang der Konferenz glaubte er ohnehin nicht.
So wie Petra Kelly Sacharow anschaute, hätte man glauben können, dass sie verliebt in ihn war. Ihre Verehrung für ihn hatte für mich schon etwas Religiöses, ja, fast Peinliches. Ich flüsterte das Max zu und er sagte, er frage sich auch, ob der leidenschaftliche Atomkraftbefürworter Andrej Sacharow unbedingt der richtige Bündnispartner für die Grünen in Moskau sei.
Am Abend des zweiten Tages, nach den Besprechungen im Kreml und der klugen Rede von Graham Greene, kam es an der Hotelbar fast zu einer Schlägerei. Max ließ sich von zwei Wirtschaftsbossen aus Baden-Württemberg provozieren. Einer sagte leicht besoffen, „es wäre für die Russen besser gewesen, wenn sie den Krieg verloren hätten“, was Max auf keinen Fall so stehen lassen konnte. „Lass die Idioten doch einfach“, sagte ich mehrfach und wollte ihn wegziehen, aber das war mit ihm nicht mehr zu machen. Unsere anderen Gesprächspartner, wie Klaus Maria Brandauer, waren längst gegangen.
Am nächsten Tag setzten Bernt Engelmann und Max ein Telegramm an Ronald Reagan, den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten auf, ein solches Treffen, wie jetzt in Moskau, auch in den USA zu ermöglichen.
Obwohl wir nur noch wenige Stunden Schlaf vor uns hatten, saßen Bernt Engelmann, Max und ich nachts lange zusammen und fragten uns, welche Bedeutung das Ganze für den Rest unseres Lebens, ja, für die Welt, haben würde, denn wir waren uns durchaus bewusst, gerade Teil von etwas Großem zu sein. Zeugen einer gewaltigen Umwälzung. Wir wurden uns rasch einig, dass die Mauer bald fallen würde.
Als wir in Deutschland landeten, war ich dumm genug, diesen Gedanken aufzunehmen. Von einem Westdeutschen Journalisten wurde uns vor laufender Kamera vorgeworfen, wir hätten uns zu Idioten der sowjetischen Außenpolitik machen lassen, dadurch würde zum Beispiel die Mauer in Berlin verharmlost. Ich sagte: „Die Mauer wird bald schon kein Thema mehr sein. Wenn die überhaupt noch irgendwo steht, dann im Museum.“
Max prophezeite mir damals noch in der Flughafenhalle, dass dieser Satz zwar vermutlich richtig sei, aber ich könne mich auf eine Menge Schwierigkeiten gefasst machen. Er hatte, wie so oft, recht. Das Zitat von mir wurde gesendet und nachgedruckt, Schulen luden mich aus, Veranstaltungen platzten. Eine ganze geplante Lesereise wackelte plötzlich. Einige luden mich verschämt, mit fadenscheinigen Begründungen, aus, andere schrieben mir zornige Briefe, jemanden, der so dumm daherrede, wolle man nicht auf die Schüler loslassen. Ich solle doch nach drüben gehen, wenn es mir dort besser gefiele.
Niemand von denen hat sich zwei Jahre später, als die Mauer dann wirklich fiel, bei mir entschuldigt.
Als Max und ich uns trennten, umarmten wir uns heftig und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm etwas in die Hand zu drücken: ein Fünfmarkstück.
Ich musste nichts erklären. Er verstand es ohne Worte und zwinkerte mir zu.

Ich nehme die Romane von Max von der Grün immer wieder zur Hand und lese in ihnen. Manchmal kommt es mir dann vor, als würde ich seinen Pfeifentabak riechen. Noch heute verneige ich mich vor dem großen Meister und bin dankbar für jeden Moment, den wir miteinander verbringen konnten.
Max starb am 7. April 2005. Er fehlt mir sehr. Ich wollte ihn noch so viel fragen…

(Klaus-Peter Wolf: Nachwort zu Max von der Grüns Roman "Späte Liebe", erschienen innerhalb der Werkausgabe im Pendragon-Verlag)

... über Kalle Gajewsky, Max von der Grün und Abraham Lincoln

“...Ich packe das Notebook in seine Tasche, kaufe noch Zigaretten und düse zurück nach Dortmund, wo wir am nächsten Nachmittag mit Kalle Gajewsky verabredet sind. Kalle rückt mit seinen Mikrofonen, Kabeln sowie einem Festplatten-Recorder an und plaudert mit mir über alte Zeiten und Max von der Grün. Ach, wie schnell das Leben abläuft. Zwei Jahre sind vergangen seit mich Renate in San Augustin anrief, um mir traurig mitzuteilen, dass von der Grün verstorben sei. Mir kommt es vor, als wäre das erst gestern gewesen. Einen Flug zu seiner Beerdigung bekam ich so kurzfristig nicht. So habe ich eine Kerze für ihn angezündet und bin lange am Meer entlang gewandert. Kalle Gajewsky lässt mich von den guten (?) alten Zeiten erzählen. Ein paar Tage später stellt er unser Gespräch auf www.reviercast.de ins Internet. Feine Originaltöne sammelt Kalle und stellt sie zum Herunterladen auf seine website. Eine Art Chronik der Literatur aus dem Ruhrgebiet entsteht dort nach und nach. Jürgen Lodemann ist zu hören und Dieter Baroth. Hugo Ernst Käufer erzählt von Liselotte Rauner und über vieles andere mehr. Mich beeindruckt dieses idealistische, uneigennützige Projekt des Musikers und Liedermachers. Tja, alle wirklich wichtige Arbeit wird nun einmal von Freiwilligen geleistet. Das fand bereits Abraham Lincoln heraus, kurz bevor er (von einem Freiwilligen??) erschossen wurde, nachdem er ins Theater ging, was nur in Dortmund völlig ungefährlich ist. Dort ist man im Schauspielhaus vor allen Gefahren sicher...“ (Wolfgang Körner, 15. Juli 2007).

"Literaturwunder Ruhr"

Unter dem Titel "Literaturwunder Ruhr" fand am 30. und 31. Oktober 2009 eine wissenschaftliche Tagung im Haus der Geschichte in Bochum statt. Eingeladen hatten Prof. Dr. Klaus Tenfelde von der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, Frau Hannelore Palm vom Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt Dortmund und Prof. Dr. Gerhard Rupp für das Germanistische Institut an der Ruhr-Universität Bochum und die Literarische Gesellschaft Bochum.

Der Kongress beschäftigte sich mit dem Aufkommen einer neuen Ruhrgebietsliteratur, die sich parallel zum industriellen und wirtschaftlichen Strukturwandel vollzogen hat. Professor Rupp stellte fest:

"Dieses Literaturwunder zeigt sich spätestens seit den 80er Jahren in einer prosperierenden Kultur- und Literaturentwicklung. Werke von Link, Lodemann, Rothmann, Seligmann, Streletz und vielen anderen bilden eine neue Qualität von Regionalliteratur heraus, die nicht nur affirmatorisch den Bezug auf die eigene Herkunft betont, sondern durch distanzierende Verfahren der Beobachtung und der Spiegelung anreichert. Dabei richten die Autor/innen den Blick nicht nur auf die Gegenwart, sondern verarbeiten immer wieder von ihrem gegenwärtigen Blickwinkel aus die Vergangenheit mit, und sie schauen nicht nur auf das Ruhrgebiet selbst, sondern sie sehen es vorzugsweise im übergeordneten europäischen Rahmen. Diese ‚Gegenbeobachtung’ verdankt sich u. a. dem Umstand, dass das Ruhrgebiet spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts selbst Ergebnis einer (geglückten) kulturellen Durchmischung ist..."

Die folgenden Hörbeiträge stellen die aktuelle Gegenwartsliteratur aus dem Ruhrgebiet in den Mittelpunkt und sind einzeln aufrufbar:

Prof. Dr. Rolf Parr, Bielefeld:
Ab in die ‚Mitten’. Von alten und neuen ‚mental maps’ des Ruhrgebiets

Dr. des. Thomas Ernst, Luxemburg:
Das Ruhrgebiet als Rhizom. Die großen Erzählwerke von Jürgen Link und Wolfgang Welt und das Jenseits des Metropolen

Prof. Dr. Klaus-Peter Strohmeier, Bochum:
„Neue Mitte“ und „neue Unterschicht“ - Wandlungen von Sozialstruktur und Sozialkultur im Ruhrgebiet

Prof. Dr. em. Jürgen Link, Hattingen:
Facetten einer anderen Heimatliteratur: „Kleine Literatur“ – „Nonprofi-Literatur“ – „Provinzpartisanen- Literatur“? (Mit einem autogenen Beispiel)

Lesung Yvette Vivien Kunkel, Witten:
Verdichtetes

Lesung Florian Neuner, Berlin/Thomas Ernst, Luxemburg:
Präsentation der Anthologie „Europa erlesen: Ruhrgebiet“

Prof. Dr. Michael Hofmann / Dr. des. Karin Yeilada, Paderborn:
Räume und Träume in den Migrationserzählungen türkisch-deutscher AutorInnen der zweiten Generation (60’)

Jonas Engelmann, Mainz:
„Der Stahlgolem“ – Jüdische Tradition im Ruhrgebiet? Kabbalistische Motive in Hendrik Dorgathens Ruhrgebietscomic

Dr. Martin Maurach, Frankfurt/Oder:
Wunderklänge? Der Strukturwandel des Ruhrgebiets in Hörspiel und akustischer Kunst

Werner Streletz, Bochum:
„Rauflustige Schwächlinge am Kiosk kaputt“ Lesung und Gespräch mit PD Dr. Ralph Köhnen, Literarische Gesellschaft und Ruhr-Universität Bochum

Gerd Herholz, LiteraturBüro Ruhr e. V., Gladbeck:
"Kunst, Kultur, Kreativität und Kampagnen – Literatur (-förderung) längs der Ruhr zwischen Inspiration und Ignoranz – nicht nur am Beispiel des Europäischen Literaturhauses Ruhr"

Prof. Dr. em. Harro Müller-Michaels, Bochum:
Literarische Gesellschaft Bochum als Beispiel der Kulturvermittlung im Ruhrgebiet

Daniela Walden, M.Ed., Bochum:
Migrantenliteratur aus dem Ruhrgebiet: Analyse und Rezeption

Dr. Artur Nickel, Bochum:
Literaturwunder, quo vadis? Im Fokus Kinder und Jugendliche aus dem Revier

Dr. Daniela Frickel, Bochum:
„Meinwärts!“ – Wohin es Autorinnen von und an der Ruhr zieht

Jan Boelmann M.Ed., Bochum:
Popliteratur und Bildungsroman – Strukturwandel in der Ruhrgebietsliteratur des neuen Jahrtausends

Frank Schorneck, Bochum, Macondo:
Chancen für junge AutorInnen im Ruhrgebiet

Dr. Jürgen Wilbert, Düsseldorf:
Das Deutsche Aphorismus-Archiv in Hattingen, die kleine Gattung im Ruhrgebiet

Dr. Jan-Pieter Barbian über "Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur"

Die Liste der Schriftsteller, in deren Romanen, Erzählungen, Essays und Reportagen das Ruhrgebiet als Thema entweder eine zentrale Rolle einnimmt oder zumindest zeitweise Beachtung gefunden hat, ist reich an bekannten Namen. Literarisch „entdeckt“ wurde das Ruhrgebiet am Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs und in der Weimarer Republik. Felix Beielstein, Karl Grünberg, Rudolf Herzog, Heinrich Kämpchen, Hans Marchwitza, Josef Winckler und Paul Zech, um nur einige Namen zu nennen, machten aus unterschiedlichen Perspektiven die Entwicklung der Industrie und der Arbeitsverhältnisse, der Politik und Gesellschaft in den Städten des Ruhrgebiets zum Thema ihrer Werke. Damals bekannte Autoren wie Bernard von Brentano, Alfons Goldschmidt, Heinrich Hauser, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Georg Schwarz veröffentlichten ihre Reportagen in angesehenen überregionalen Zeitungen und Verlagen. Vor allem Erik Reger gelang es, mit seinen beiden Romanen „Union der festen Hand“ (1931) und „Das wachsame Hähnchen“ (1932) sowie mit seinen Beiträgen in der WELTBÜHNE, in der FRANKFURTER ZEITUNG oder im BERLINER TAGEBLATT, die deutsche Öffentlichkeit von der Bedeutung dieser industriellen Kernzone für ganz Deutschland zu überzeugen. Trotz dieser beachtlichen Vorgeschichte stellte Heinrich Böll 1958 in seiner Einführung zu einem Bildband des Kölner Fotografen Chargesheimer fest, dass das Ruhrgebiet „noch nicht entdeckt“ worden sei. Böll, dessen Vater aus Altenessen stammte, war besonders von den Menschen und ihrer Art, miteinander umzugehen, fasziniert. Nach ihm prägten vor allem die „Dortmunder Gruppe 61“ das Bild des Ruhrgebiets in der literarisch interessierten Öffentlichkeit. In den 1970er Jahren wurde diese Autorengruppe abgelöst vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, zu deren bekanntsten Vertretern Erasmus Schöfer, Peter Schütt und Günter Wallraff gehörten. Mit Jürgen Lodemanns Roman über „Anita Drögemöller und die Ruhe an der Ruhr“ (1975) setzte die Entdeckung des Ruhrgebiets für den Kriminalroman ein. Gerade dieses Genre hat bis heute am nachhaltigsten das Leben an der Ruhr zum Thema gemacht. Doch sollten darüber andere Erzähler nicht vergessen werden: Hans Dieter Baroth mit seinen wunderbaren Familiengeschichten aus dem Bergarbeitermilieu, Nicolas Born, Michael Klaus, Horst Krüger, Ralf Thenior. Mit vier brillanten Romanen hat Ralf Rothmann seit 1991 einem großen Lesepublikum die Besonderheiten des Lebens im Ruhrgebiet der 1960er bis 1980er Jahre erschlossen.

"Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur"

Vom 12. - 13. September 2008 fand die o.g. Tagung des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (Dortmund), der Stadtbibliothek Duisburg und der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets (Bochum) im LWL-Industriemuseum Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen statt. Mit Genehmigung der Referenten veröffentlicht REVIERCAST die Mitschnitte der wissenschaftlichen Vorträge:

Dr. Thomas Ernst (Brüssel):
www.thomasernst.net
"Von der Heimat zur Hybridität? Zur Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literaturwissenschaft"

Jens Wietschorke M.A. (Berlin):
"Zur Formierung einer Kulturlandschaft. Das Ruhrgebiet in der Reiseliteratur 1800 - 1900"

Dr. Oliver Piecha (Wiesbaden):
"Das Ruhrgebiet als 'Städtestadt'. Eine Europavision aus der Weimarer Republik"

Dr. Matthias Schöning (Konstanz):
"Anomie der 'festen Hand'. Erik Regers literarische Analyse des Ruhrgebiets der 1920er Jahre"

Thomas Köhler (Münster):
"Der Ruhrkampf als völkische Erweckung. Edwin Erich Dwingers Roman 'Der Glaube an Deutschland' und Erlebnisschilderungen von Freikorpskämpfern über den 'Grenzkampf im Westen'"

Dr. Ralf Georg Czapla (Heidelberg):
"Das Ruhrgebiet. Zur literarischen Profilierung einer Landschaft in Anthologien deutscher Arbeiter- und Industriedichtung seit der Weimarer Republik, Teil I"
"Das Ruhrgebiet. Zur literarischen Profilierung einer Landschaft in Anthologien deutscher Arbeiter- und Industriedichtung seit der Weimarer Republik, Teil II"

Prof. Dr. Günter Häntzschel (München):
"Das industrielle Ruhrgebiet in der Lyrik"

Markus Wiefarn (München):
"Der blinde Fleck der BRD. Zur Problematik der literarischen und politischen Repräsentation in Erika Runges 'Bottroper Protokollen'"

Dr. Dirk Hallenberger (Essen):
"Jürgen Lodemann oder wie das Ruhrdeutsch in die Literatur kam, Teil I"
"Jürgen Lodemann oder wie das Ruhrdeutsch in die Literatur kam, Teil II"


Prof. Dr. Gerhard Rupp, Esther Treude, Jens Boelmann (Bochum):
"Literatur als Indikator des Strukturwandels im Ruhrgebiet, Teil I"
"Literatur als Indikator des Strukturwandels im Ruhrgebiet, Teil II"

Prof. Dr. Werner Jung (Duisburg-Essen):
"'Vom Frühling irrer Hoffnung zum Herbst der Erinnerung' - Lieben, Arbeiten und Kämpfen bei Erasmus Schöfer"

Oliver Ruf (Trier):
"Milieu - Schwelle - Ausnahme. Zur Literalität des Ruhrgebiets im deutschen Gegenwartsroman, Teil I"
"Milieu - Schwelle - Ausnahme. Zur Literalität des Ruhrgebiets im deutschen Gegenwartsroman, Teil II"

Jasmin Grande M.A. (Düsseldorf):
"Hüsers Kulturpolitik im Kontext der Gewerkschaftsstrukturen"