Literaturlandschaft Ruhrgebiet

Von der Städtestadt zur Metropole Ruhr, von der Industriekultur zur Kulturindustrie. Das Ruhrgebiet ist spannend. Erleben Sie mit mir den Wandel und die literarische Vielfalt in ausgesuchten Hör- und Videobeiträgen. Hier finden Sie zudem Kommentare und Kurzbiografien der beteiligten Personen, Informationen zum REVIERCAST-Projekt, Verweise auf verwandte Projekte sowie aktuelle Nachrichten aus der Literaturszene im Revier.

Viel Vergnügen beim Stöbern ...

Karl-Heinz Gajewsky

"Inzwischen habe ich mir Ihre Website angesehen, das ist ja ein Opus magnum, an dem Sie da arbeiten, die literarische Kartographierung des Ruhrgebiets, großartig, und mich haben Sie damit in beste Gesellschaft aufgenommen."

Andreas Rossmann, FAZ

Ausgezeichnet Literaturpreis Ruhr - 33 Porträts - hier: Karl-Heinz Gajewsky (Preisträger 2013)

1986 stiftete der Kommunalverband Ruhrgebiet, Vorläufer des heutigen Regionalverbands Ruhr, einen Preis zur Förderung der Literatur im und über das Ruhrgebiet. 2019 wurde der Literaturpreis Ruhr neugestaltet - Anlass für einen Rückblick auf die bisher Ausgezeichneten. Lebhafte, manchmal persönliche Porträts mit fundierten Hintergrundinformationen und eingestreuten Textauszügen stellen die Preiträger*innen der Jahre 1986 - 2018 vor. Sie vermitteln einen Eindruck vom reichhaltigen literarischen Leben in einer ehemaligen Industrieregion und wollen Lust aufs Weiterlesen machen. Herausgeber:Regionalverband RuhrAutor:Volker W. Degener, Jens Dirksen, Hannes Krauss ISBN:978-3-86206-838-8 Ausgabe:September 2020Ausführung:Hardcover, 208 Seiten Anmerkung:Kettler Verlag, Dortmund Preisträger 2013: Karl-Heinz Gajewsky * 25.10.1952 Was gäben wir heute darum, die Stimmen von Goethe, Shakespeare oder Ovid hören zu können! Dass zumindest die Ruhrgebietsliteratur auch für künftige Generationen hörbar sein wird, ist das Verdienst von Karl-Heinz Gajewsky. Er hat seit 2007 in der Internetplattform Reviercast, in diesem einzigartigen, »Schallarchiv« genannten Text-, Ton- und Video-Schatzhaus der Ruhrgebietsliteratur, inzwischen Hunderte von Tondokumenten für die (Welt-) Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Der 1952 in Dortmund geborene Sozialarbeiter war bis dato im Ruhrgebiet eher für andere Tätigkeiten bekannt – als Liedermacher »Kalle« Gajewsky, der viele musikalische Projekte gemeinsam mit Literaten wie Heinz Kahlau, Ilse Kibgis, Lilo Rauner oder Richard Limpert in Angriff genommen und die Musik zu diversen Fernsehproduktionen komponiert hat, etwa zur ARD-Serie Gut Land und zu Fernsehfilmen wie Fast ein Prolet, Gruppe 61, Hamsterjahre oder Auferstanden. Zudem hat er etliche Sammelbände mit Texten von Ruhrgebietsautoren herausgegeben. Sein wirkmächtigstes Projekt aber bleibt der Ruhrpodcast, weil all das Aufnehmen, das Sammeln und das Zugänglichmachen von Original-Tönen der Literatur die denkbar größte Öffentlichkeit erreicht. So verdienstvoll in einem kulturellen, historischen, buchstäblich literarischen Sinne Gajewskys Reviercast ist, er betreibt ihn unentgeltlich, ehrenamtlich – was angesichts der im Ruhrgebiet bereits vorhandenen Literatur-Institutionen umso verdienstvoller ist. Gajewskys Arbeit ist Arbeit für die Literatur und an der Literatur. Die ersten Archive, die in der Antike eingerichtet wurden, dienten auch, aber eben nicht nur als Entsorgungsplatz für Unterlagen, die eine allmählich sich ausbreitende Bürokratie vorderhand nicht mehr benötigte; ein »Archeion« war im Griechischen darüber hinaus auch ein Amts-, ein Regierungs-, ein Herrscher-Gebäude. Der Antike war der Zusammenhang von Überlieferung und Macht, von Vergangenheit und Gegenwart noch überaus präsent. Ein Archiv haben sich immer diejenigen geschaffen, welche die Macht in Händen hielten. Die alte Gleichung, nach der die Mächtigen Archive haben, gilt inzwischen auch reziprok: Wer ein Archiv hat, hat Macht. Insofern arbeitet Karl-Heinz Gajewsky an der Geschichtsmächtigkeit der Literatur und der Menschen im Revier. Wer das Archiv hat, hat nämlich nicht nur die Deutungshoheit über die Geschichte, sondern sogar deren unentbehrliche Grundlage, das Gedächtnis in seinem Besitz. Das scheint überhaupt der tiefere Sinn solcher Begriffe wie »bewahren« oder »verwahren« zu sein: Die Dokumente werden wahr durch den Akt ihrer Konservierung. Im Ruhrgebiet herrschen, abgesehen vom NRW-Landesarchiv in Duisburg, neben den allerorts vorhandenen städtischen Archiven bislang vor allem die Firmen-, die Industrie- und Wirtschaftsarchive vor. Immerhin, das Archiv der Arbeiterjugendbewegung gibt es noch, in Oer-Erkenschwick, und das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut bietet ebenfalls einige Archivalien zur »Literatur und Kultur der Arbeitswelt«. Ein Autoren-, ein Literaturarchiv aber, das war vollkommen neu, als Karl-Heinz Gajewsky 2006 mit den Plänen für seinen Reviercast begann, die wir getrost als Akt einer Geschichtsschreibung »von unten« begreifen können. Er begann an jenem Zeitpunkt, an dem die Bedeutung einer »Literatur der Arbeitswelt« im Ruhrgebiet allmählich verblasst war, an dem Schriftstellerinnen und Schriftsteller, ihre Schreibweisen und Bücher »endlich so wie überall« zu werden schienen, um einmal den Titel einer großartigen Ausstellung von Ruhrgebietsfotografie in den 1980er-Jahren zu zitieren. Was Karl-Heinz Gajewsky da mit seinem Reviercast bislang 400fach und in Zukunft gewiss noch viel-hundertfach macht, ist in jeder Hinsicht zeitgemäß, nicht nur wegen der Aufnahmetechnik und der Präsentationsweise. Er sammelt zum einen die Spuren, die von der engagierten Arbeiterliteratur, dem bis heute herausragenden Beitrag des Ruhrgebiets zur Literaturgeschichte, noch erhalten sind, noch gehört, noch gesehen werden können. Ganz so, als hätten Autoren wie Kurt Küther und Ilse Kibgis insistiert, wie es einst Hans Sahl in einem sehr viel dunkleren Zusammenhang getan hat: »Fragt uns, wir sind die letzten!« Es ist das Dokumentarische mit Blick auf die Vergangenheit, das Karl-Heinz Gajewskys Reviercast zu einem derart einmaligen Projekt macht. Für einige Stimmen der Ruhrgebietsliteratur wie etwa für Josef Büscher kam er zu spät – wie überhaupt die ganze Aufnahmetechnik zu spät gekommen ist für alle, die gern wüssten, wie Schillers und Büchners Stimmen eigentlich klangen. Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen: Dass die Internet-Seite Reviercast noch rechtzeitig kam, um Spuren der älteren Revierliteratur zu dokumentieren, noch rechtzeitig, um die Stimme des viel zu früh verstorbenen Michael Klaus und seine Worte in jeder Hinsicht aufzuheben. Zugleich aber hat Karl-Heinz Gajewsky, hat seine Internetplattform längst auch schon die neuere Ruhrgebietsliteratur im Blick. Und auf Band, wie man in analogen Zeiten vielleicht noch gesagt hätte – tatsächlich aber in Bits und Bytes, in html und mp3. Unter www.reviercast.de lässt sich nicht nur hören, sondern auch besichtigen, welche Bandbreite die Ruhrgebietsliteratur heute hat – ein Grund zum Staunen! Nicht nur darüber, dass alle Träger des Literaturpreises Ruhr dort verzeichnet sind und gewiss jetzt schon einige der zukünftigen Preisträger (deshalb hat die Auszeichnung ja auch eine gewisse immanente Logik). Staunen lässt sich vielleicht noch mehr über die vielen Namen, die längst nicht mehr nur rheinisch-westfälisch-polnische Wurzeln haben, sondern auch türkische, italienische, georgische, ukrainische und andere. Wenn einer wissen will, ob die Ruhrgebietsliteratur doch nicht nur »endlich so wie überall« klingt, ob sie sich ihre Bücher, ihre Werke immer noch von ihren Rändern her erarbeitet, wie Gerd Herholz das einmal auf den Punkt gebracht hat, dann findet sich genau dies im Reviercast eindrucksvoll dokumentiert. Die Ränder der Literatur, an denen das Revier so erfolgreich arbeitet, das sind nicht mehr nur die Reportagen aus der Arbeitswelt, das sind längst auch Krimi und Kinderbuch, das ist das Kabarett, die Satire, das Sachbuch oder eine mündliche Literaturform wie der Poetry Slam. Denn selbstverständlich sind auch solche untergründigen Kultfiguren wie Sebastian23 oder populäre Autoren wie das »Lehrerkind« Bastian Bielendorfer im Reviercast verzeichnet. Dass die Ruhrgebietsliteratur immer noch einen eigenen, wenn auch neuen Zungenschlag hat, das hört man nirgends besser als in den Aufnahmen, die Karl-Heinz Gajewsky da erstellt hat. Wenn sich die Organisatoren der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 dagegen entschieden haben, das Projekt Reviercast zu unterstützen, ging es bei diesem Mega-Event nicht um Dauer und Substanz, sondern um Feuerwerke zur Image-Pflege. So, wie für das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts aus Mangel an nationaler Einheit die Kultur, die Verehrung der Dichter und Denker zum identitätsstiftenden Moment wurde, leisten da vielleicht auch verdienstvolle Initiativen wie Karl-Heinz Gajewskys Reviercast für die Möchtegern-Metropole Ruhr. Gut nur, dass Reviercast im Internet zu Hause ist und nicht irgendwo zwischen Holzwickede und Neukirchen-Vluyn. Sonst könnte es am Ende noch dazu dienen, dass sich irgendeine Ruhrgebietsstadt der anderen gegenüber wieder einmal kirchturmhoch überlegen fühlt. Nein, Reviercast ist nicht von einer Stadt zuwege gebracht worden, nicht von einer Universität, nicht von einem Unternehmen oder einem Verband, sondern von einer einzelnen Person: rund zehn Stunden wendet »Kalle« Gajewsky, wie Freunde und Verehrer ihn nennen, im Durchschnitt für jeden neuen Reviercast-Beitrag auf. Manchmal interviewt er Schriftsteller, manchmal restauriert und digitalisiert er alte Video- oder Tonbänder, manchmal besucht er Lesungen oder andere öffentliche Veranstaltungen wie zum Beispiel Literaturpreisverleihungen mit seinen Aufnahmegeräten. Die viele Arbeit, die das macht, reicht von der Aufnahme über den Schnitt eines solchen Beitrags bis hin zur Einstellung auf der Homepage, für die wiederum eine Formatierung nötig ist. Alles für sich immer nur ein leichter Tastendruck, ein kleiner Mausklick – alles zusammengenommen eine Riesenarbeit. Das aber, finden wir ja nur allzu gern, ist wirklich typisch Ruhrgebiet: Da lamentiert einer nicht herum, weil die öffentliche Förderung fehlt, weil keiner sonst sich kümmert, weil das eigentlich zu viel der Zumutung ist für einen allein. Nein, das alles macht Karl-Heinz Gajewsky nicht, sondern er krempelt die Ärmel auf. Und macht sich an die Arbeit. Besorgt sich mehr und mehr an professioneller Ausrüstung. Und fragt und nimmt auf und schneidet und konfiguriert alles digital und stellt es ins World Wide Web. Was dabei herausgekommen ist, lädt zu »einer akustischen Reise durch die Literaturlandschaft Ruhgebiet« ein, wie es der Literarhistoriker Walter Gödden beschrieben hat. Es ist aber auch ein Denkmal der Revier-Literatur in Tönen und Bildern. Reviercast, das Ton- und Bild-Archiv der Ruhrgebietsliteratur, das ist ein »Pott-Cast« im wahrsten Sinne des Wortes, und der kommt wie gesagt ohne jede öffentlich-rechtliche Unterstützung zustande. Aber vielleicht stellt sich die ja eines Tages doch noch ein. Zu wünschen wäre es allemal. Jens Dirksen